Der Weg ins Licht

Der Weg ins Licht

Leseprobe

Nahtod-Erfahrungen

Es sind aber nicht nur die Aussagen des Glaubens, die uns helfen könnten, den Blick nach vorne zu richten in die Zukunft jenseits des Todes. Nahtod-Erfahrungen von Menschen, die klinisch tot waren und wiederbelebt werden konnten, ermöglichen uns auf einer neurophysiologisch erforschbaren Ebene Zugänge zu Phänomenen, die sonst nur in den religiösen und künstlerischen Traditionen der Völker überliefert werden.

Sie alle kennen vermutlich das berühmte Bild von Hieronymus Bosch (ca. 1450-1516) vom Aufstieg der Seele in den Himmel: Eine Tunnelröhre führt in ein helles Licht, die Seele wird von Engeln geleitet und von menschlichen Wesen umgeben von Licht erwartet. Es ist erstaunlich, wie sehr dieses mittelalterliche Bild mit dem übereinstimmt, was Hunderte, ja Tausende von Menschen in weltweit bezeugten Nahtod-Erlebnissen erlebt und geschildert haben. Ein Fachmann, der Psychiater Michael Schröter-Kunhardt, schreibt darüber: In den christlich orientierten Industrieländern dominieren durchweg positive Nahtod-Erfahrungen. Etwa jedes zehnte Erlebnis hat jedoch einen negativen oder gemischt negativ-positiven Inhalt. Zumeist kommt es dabei nach einer Außerkörperlichkeits- und Tunnelphase zum Eintritt in eine dunkle, höllische Welt, wo Dämonen und andere finstere Figuren den Erlebenden verurteilen, bedrohen oder gar angreifen.
Er sieht Bereiche voller hasserfüllter, sich gegenseitig schlagender oder gequälter Menschen, die ihren Süchten und schlechten Eigenschaften frönen.

Auch kann es zum Eintritt in eine dunkelkalte unendliche Leere kommen, die kein Entrinnen ermöglicht und die eigene Existenz bedroht. Das Auftreten negativer Sterbeerfahrungen scheint mit dem momentanen seelischen Zustand zusammenzuhängen. So findet man solche Erlebnisse gehäuft nach Selbstmordversuchen, wenngleich es dabei oft auch positive Erlebnisse gibt. Auch kann ein einzelner mehrere positive und negative Nahtod-Erfahrungen machen – abhängig von dem momentanen seelischen Zustand.

In kompletter Form besteht ein Nahtod-Erlebnis in oft chronologischer Reihenfolge aus folgenden Sequenzen:

• einer Stimmungsaufhellung mit Gefühlen von Leichtigkeit, Wohlbefinden, Friede und Glück;
• einem außerkörperlichen Erlebnis, bei dem der Sterbende sich plötzlich auf seinen eigenen physischen Körper herabschauend erlebt, wobei sein rationales Bewusstsein ohne Bruch weiterarbeitet und zuweilen gar verschiedene Tests unternimmt, um diese neue Existenz zu überprüfen; dabei werden oft – selbst von Blinden – verifizierbare optische Wahrnehmungen gemacht; während der Außerkörperlichkeitserfahrung sind alle Schmerzen verschwunden; schließlich kann man in diesem Zustand scheinbar durch die Materie hindurchgehen oder sehen sowie die Gedanken der Anwesenden lesen;
• Eintritt in eine zumeist dunkle tunnelartige Übergangszone;
• Wahrnehmung eines meist weißgoldenen, unendliche Liebe ausstrahlenden Lichtes, das bei dem Erlebenden Gefühle höchster Seligkeit auslöst; im Verschmelzen mit diesem Licht kann es zu mystischen Allwissens- bzw. Alleinheitserfahrungen kommen;
• Wahrnehmung einer paradiesischen Landschaft;
• Begegnung mit verstorbenen Verwandten, religiösen Figuren oder Lichtwesen; mit diesen kommt es zu einer Art telepathischen Kommunikation, in welcher der Erlebende oft zur Rückkehr aufgefordert wird;
• die Rückkehr in den Körper erfolgt dann – häufig gegen den Willen des Erlebenden – zumeist sehr abrupt;
• während eines dieser Stadien kommt es oft noch zum Ablauf eines Lebensfilms, in dem bekannte und unbekannte Einzelheiten des eigenen Lebens gesehen werden; dabei erlebt der Betreffende noch einmal alle seine Gedanken, Worte und Taten mit ihren Auswirkungen auf alle Beteiligten nach, wobei es zu einer hochethischen Bewertung derselben nach dem Maßstab der Liebe kommt;
• selten werden auch präkognitive Teile der eigenen oder globalen Zukunft gesehen, die später zuweilen tatsächlich wahr werden;
• immer kommt es dabei zu einer Aufhebung des gängigen Zeitablaufs insofern, als in der kurzen Nahtod-Erfahrung viel mehr als gewöhnlich möglich erlebt wird.

Viele Menschen sind nach einem solchen Sterbeerlebnis von der Existenz Gottes überzeugt und geben religiösen und ethischen Werten in ihrem Leben Vorrang vor allem anderen. Sie empfinden eine größere Liebe und Verbundenheit mit allen und allem, mehr Toleranz und Mitgefühl mit den Menschen, aber auch eine höhere Wertschätzung der eigenen Person. Sie wenden sich häufig von materialistischen, äußerlichen Werten ab und nehmen sozialkaritative Aufgaben an. Sie haben Lebensfreude und Selbstvertrauen, fühlen sich aber auch verantwortlicher. Sie suchen Selbsterkenntnis, Lebenssinn und Weisheit, fühlen sich insgesamt „lebendiger“ und wissen um die Kostbarkeit der noch zur Verfügung stehenden Zeit.

Die Behauptung, dass die Nahtod-Erlebnisse Wahrnehmungen einer anderen Realität und keine Halluzinationen seien, ist nicht so ohne weiteres widerlegbar. Denn welche Wahrnehmungen „real“ und welche „halluziniert“ sind, können wir nicht mit Sicherheit feststellen. Unsere Wirklichkeit ist in einem gewissen Sinne immer eine Illusion, da es sich um eine Interpretation des Gehirns handelt. Doch anders als Phantasien und ähnlich wie „wirkliche“ Wahrnehmungen haben Nahtod-Erfahrungen gemeinsame Inhalte und bestehen aus einer sinnvollen szenischen Abfolge. Menschen, die für Halluzinationen anfällig sind, erleben Nahtod-Erfahrungen nicht häufiger als andere Menschen.

Welche Hirnareale bei Nahtod-Erlebnissen beteiligt sind, lässt sich nicht ganz genau festlegen. Vermutlich spielt jedoch das temporolimbische System eine wichtige Rolle, welches das Groß-, Zwischen- und Mittelhirn durchzieht. Dieses System ist auch an anderen integrativen Leistungen wie Gedächtnis, Lernen, Sprache und Selbstgefühl beteiligt. Stimuliert man den rechten Temporallappen des Großhirns elektrisch, so können manchmal Elemente der Nahtod-Erfahrung wie Lebensfilm-Bruchstücke, Zeitveränderungen, Glücksgefühle oder Außerkörperlichkeitserlebnisse beobachtet werden.

Bei der Nahtod-Erfahrung scheinen ganz bestimmte Hirn-Strukturen selektiv erregt zu werden. Dieses Erfahrungsmuster scheint im Gehirn biologisch angelegt zu sein, so dass es „bei Bedarf“ aktiviert werden kann. Der Psychiater Stanislav Grof konnte beispielsweise durch Halluzinogene Elemente der Nahtod-Erfahrung bei unheilbar Krebskranken auslösen und ihnen so (religiöse) Zuversicht geben und die Angst vor dem Tod nehmen, ihre Stimmung aufhellen und Schmerzen reduzieren.

Dementsprechend gelten bewusstseinsverändernde Techniken und Substanzen in den meisten Kulturen als Zugang zu religiösen (Jenseits-)Erfahrungen. Die Nahtod-Erfahrung stellt deren Prototyp dar und zeigt sogar deren biologische Basis auf. Alle religiösen Erfahrungen und die Religiosität des Menschen überhaupt scheinen auf einer solchen neurophysiologischen Grundstruktur zu beruhen.

„Nahtod-Erlebnisse sind deshalb so heilsam, weil sie die innere Religiosität freilegen, die bei uns allgemein verdrängt wird“ – so fasst der Psychiater Michael Schröter-Kunhardt seine bisherigen Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet im Juni-Heft 1993 der Zeitschrift „Psychologie heute“ zusammen.

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