Flugversuche
„Flugversuche“ oder: Ein etwas anderer Weg zur Bibel
Maria hält ihren toten Sohn im Arm. Die Muttergottes ist so dargestellt, wie wir sie seit dem Mittelalter aus unzähligen Gemälden kennen: in weiß-rotem Gewand, Kopf und Schultern bedeckt von einem blauen Tuch mit goldener Borte. Der Christus mit Dornenkrone aber ist ein bärtiger Schwarzer. Das ist ungewöhnlich, ja, schockierend. Maria blickt uns geradewegs in die Augen und scheint zu fragen: „Was ist jetzt mit deinem Christusbild?“
So nachzuschauen und nachzulesen im Buch „Flugversuche“ von Pfarrer Robert M. Zoske, erschienen im April dieses Jahres. Das Foto des Künstlers Andres Serrano ist auch das Titelbild des Buchs. Und dessen Programm.
„Flugversuche“ ist eine Sammlung von rund 40 Essays, von denen die meisten zwischen 2000 und 2007 als Morgenandachten im Norddeutschen Rundfunk (NDR) vorgetragen wurden. Zweimal im Jahr hielt Pfarrer Zoske je eine Woche lang die tägliche Andacht des Hamburger Senders. So kamen rund 70 Texte zusammen. Für das Buch hat er eine sorgfältige Auswahl getroffen und sämtliche Texte überarbeitet.
Andres Serrano ist nur einer der Künstler, dessen Bilder Robert Zoske so bewegt haben, dass er daran eine Andacht festgemacht hat. Andere sind Gauguin, Kokoschka, Dalí oder Bacon. Wie kam Pfarrer Zoske auf bestimmte Künstler und bestimmte Bilder? „Ich bin durch viele Ausstellungen gegangen und habe gewartet, bis es ‚klick’ gemacht hat“, erzählt er. „Klick“ machte es auch bei Gemälden, die auf den ersten Blick mit der christlichen Botschaft überhaupt nichts zu tun haben, wie dem „Blauen Mann“ von Francis Bacon, der sich selbst als Atheist bezeichnete. Der „Blaue Mann“ kann als die Inkarnation gewissenloser Raffgier interpretiert werden. Von dort aus führt ein direkter Weg zu Matthäus 23, 28: „…innerlich aber steckt ihr voll Heuchelei und Schlechtigkeit“. Der Weg über die Kunst eröffnet einen ganz neuen Zugang zur Bibel.
Der Aufsatz-Zyklus „Kunst“ ist nur einer im Buch. Ein anderer hat den Titel „Glück“, wieder ein anderer ist Schriftstellern gewidmet, die sich mit Jesus beschäftigt haben, wie Böll, Dürrenmatt oder Seghers. Die meisten Essays sind kurz – für jede Morgenandacht gab es nur dreieinhalb Minuten Sendezeit. Da mussten die Andachten schon packend, geradezu provozierend sein, um bemerkt zu werden. „Die wenigsten Hörer haben das Radio extra für die Morgenandacht eingeschaltet“, erklärt Robert Zoske, „aber auch diese Hörer sollten aufhorchen“ und – so hofft der Autor – weiter darüber nachdenken.
Zum Beispiel über den abgehackten Olivenbaum, aus dem ein frischer, grüner Ast wächst – ein Gemälde, das der kranke Vincent van Gogh in einer Heilanstalt malte. Gleicht das nicht der Selbstcharakterisierung des Apostels Paulus aus dem 2. Korintherbrief: „…stets traurig, aber allezeit fröhlich“? Viele Geschichten sind tröstlich, andere aufrüttelnd, alle überraschend. Im Vorwort lesen wir: „Gott gibt dem Glaubenden (…) den Mut, zu fliegen.“ Mal versuchen?
Marion Schmitz-Reiners