Matthias Claudius und Freund Hain

Matthias Claudius und Freund Hain

(Vorwort von Gothart Magaard, Bischof em.)
„Der Mond ist aufgegangen“ – dieses bekannte Lied, dessen Text von Matthias Claudius stammt, habe ich in den letzten Jahren gerne abends am Ende von Sitzungen angestimmt. Die erste und die letzte Strophe in jedem Fall, manchmal auch weitere. Die 6. Strophe fast nie:
„Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod; und wenn du uns genommen, laß uns in‘ Himmel kommen, du unser Herr und unser Gott.“
Für Matthias Claudius gehörte zum Abendlied und Abendgebet selbstverständlich auch der Blick auf den Abend des Lebens und die Bitte um einen sanften Tod. Eine hohe Kindersterblichkeit, eine deutlich kürzere Lebenserwartung als wir sie kennen, und das regelhafte Sterben zuhause führten dazu, dass es eine häufige Erfahrung im Alltag war, dass der Tod das Leben begrenzt. Matthias Claudius war auch in seiner eigenen Familie mit zahlreichen Todesfällen konfrontiert, die er stets auch literarisch kunstvoll verarbeitete. In diesem Buch kann man erfahren, dass Matthias Claudius als Kind beinahe einmal ertrunken wäre und mit dem Leben schon abgeschlossen hatte, was er zeitlebens nicht vergaß. Der Tod war für ihn stets ein literarischer Wegbegleiter.
War der Tod einerseits unbegreiflich und schmerzlich, suchte Matthias Claudius mit ihm gleichwohl das Gespräch und nennt ihn „Freund Hain“. Schon im ersten Band seiner sämtlichen Werke schreibt Claudius über ihn: „Er soll als Schutzheiliger und Hausgott vorn an der Haustür des Buchs stehen“. Claudius kommuniziert mit ihm aus einer besonderen Nähe und Vertrautheit. Immer in der Gewissheit, dass der Tod ein unvermeidbarer, auch hilfreicher Begleiter ist auf dem Weg in die himmlische Herrlichkeit. Jürgen Wehrs geht in dieser Publikation den Spuren dieser Todesfreundschaft in vielen Hinsichten nach: anhand der Biographie von Matthias Claudius, anhand von seinen wunderbaren Texten, von Bildern und ikonographischen Bezügen, und von Dialogen mit verschiedensten Gesprächspartnern.
Wir fragen heute vielleicht kritisch: Kann man sich mit dem Tod überhaupt anfreunden? Zugleich erfahren wir, dass wir in einer Zeit, in der Selbstbestimmung und Autonomie größte Bedeutung haben, neue Perspektiven auf die Endlichkeit des Lebens brauchen. Vielleicht auch einen „Mut zur Endlichkeit“, wie es Fulbert Steffensky einmal geschrieben hat. Wenn uns der Dialog von Matthias Claudius mit „Freund Hain“ heute eher fremd erscheinen sollte, stellt sich doch auch uns die Frage, wie wir den Tod verstehen und wie wir uns auf den Tod vorbereiten. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben, auf dass wir klug werden,“ so heißt es im Psalm 90. Was kann das heißen, klug zu werden angesichts der Endlichkeit, die auch mein Leben betrifft? Antworten dazu werden sehr unterschiedlich ausfallen. Mir fallen dazu auch Menschen ein, die in unserer Zeit von überwältigenden „Nahtoderfahrungen“ eher leise erzählen, die ihren Blick auf den Tod und das Leben stark verändert haben.
An manchen Orten habe ich die oben genannte 6. Strophe des Liedes von „Der Mond ist aufgegangen“ zu schätzen gelernt: In der Begleitung Sterbender können diese Zeilen und all die anderen Liedstrophen aus dem Gesangbuch, die vom Sterben oder von der künftigen Herrlichkeit handeln, eine besonders tröstliche Kraft entwickeln. Für Menschen, die spüren, dass sie bald sterben werden und für die, die sie begleiten.
Ich wünsche diesem Buch viele interessierte Leserinnen und Leser.

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