Matthias Claudius und Freund Hain

Matthias Claudius und Freund Hain

Helge Adolphsen
Hauptpastor em.

Rezension des Buches von Jürgen Wehrs
“Matthias Claudius und Freund Hain”

Die Fülle der Literatur über Matthias Claudius ist beeindruckend. Jetzt hat Jürgen Wehrs, der Historiker, Pädagoge und Kenner der Werke von Matthias Claudius, sich einem besonderen Thema im Werk des Wandsbeker Boten gewidmet: “Matthias Claudius und Freund Hain.” Der Untertitel spitzt es zu “Die Kunst, sich den Tod zum Freund zu machen.” Der Tod ist neben der Liebe das Hauptthema in Claudius umfangreichem Werk. Ihn nennt er „Freund Hain.“ Mit ihm steht er auf Du und Du. Er spricht ihn manchmal vertraulich mit Du – manchmal respektvoll mit Sie an. Er achtet und schätzt ihn als vertrauten Gesprächspartner und nennt ihn den “Knochenmann” mit der Sense und auch das “Gerippe.” Mit ihm verbindet ihn eine ungewöhnliche enge Beziehung, die er in den Dialogen mit ihm poetisch entfaltet. Er stellt ihn seinem gesamten Werk mit einer besonderen Widmung voran.
In vier Generationen seiner großen Familie waren Tod und Sterben für den Wandsbeker Boten vielfach präsent. Als Kind hatte er eine schwere Rippenfellentzündung überstanden und wäre einmal beinahe ertrunken. Er hat viele Todesfälle in seiner Familie und in seinem Freundeskreis erlebt, die er in seinen anrührenden Gedichten mit großer Empathie und im besten Sinne christlich verarbeitet hat. Den Tod verdrängt er nicht, so wie es heute vielfach geschieht. Das alte “memento mori” “Bedenke das Sterben” klingt bei ihm für heutige Ohren sehr fremd. Er spricht ihn wie einen besonders Vertrauten so an: “Sei mir willkommen, sei gesegnet, Lieber!” Solche Worte sind weit entfernt von Melancholie, Resignation oder gar Todessehnsucht. Claudius kannte sicher die Tradition und die Bilder von christlichen Hospizen im Mittelalter. Da liegen die Sterbenden auf ihren Tragen in einem großen Saal. In der Mitte der leidende Jesus am Kreuz, der als Leidender zum Sieger über den Tod wird. Der Tod trennt den Christen nicht von Christus. So ist der Tod für Claudius weder Gegner noch Feind, sondern ein immer willkommener Gast und vertrauter Gesprächspartner. Er gibt ihm sogar einen besonderen Ehrentitel und begrüßt ihn „als meinen Schutzgott und Hausgott.“ In seinen Gedichten verarbeitet er die vielen Todesfälle in seiner Familie, die er erlebt. Er vergisst aber nie das Lächeln des Sensenmannes, ebenso wenig die Freude am Leben und das Glück der Liebe zu seiner Rebecca und den Kindern. „Der Tod gehört zum Leben“.

Der Verfasser des Buches stellt Claudius kenntnisreich in seine Zeit und lässt Zeitzeugen und heutige Kenner des Werkes von ihm zu Wort kommen. Ein ansprechendes und mutiges Buch in einer Zeit, in der die Ratgeberliteratur über das Thema Sterben und Tod vielfach oberflächlich und flach daherkommt.

(Vorwort von Gothart Magaard, Bischof em.)
„Der Mond ist aufgegangen“ – dieses bekannte Lied, dessen Text von Matthias Claudius stammt, habe ich in den letzten Jahren gerne abends am Ende von Sitzungen angestimmt. Die erste und die letzte Strophe in jedem Fall, manchmal auch weitere. Die 6. Strophe fast nie:
„Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod; und wenn du uns genommen, laß uns in‘ Himmel kommen, du unser Herr und unser Gott.“
Für Matthias Claudius gehörte zum Abendlied und Abendgebet selbstverständlich auch der Blick auf den Abend des Lebens und die Bitte um einen sanften Tod. Eine hohe Kindersterblichkeit, eine deutlich kürzere Lebenserwartung als wir sie kennen, und das regelhafte Sterben zuhause führten dazu, dass es eine häufige Erfahrung im Alltag war, dass der Tod das Leben begrenzt. Matthias Claudius war auch in seiner eigenen Familie mit zahlreichen Todesfällen konfrontiert, die er stets auch literarisch kunstvoll verarbeitete. In diesem Buch kann man erfahren, dass Matthias Claudius als Kind beinahe einmal ertrunken wäre und mit dem Leben schon abgeschlossen hatte, was er zeitlebens nicht vergaß. Der Tod war für ihn stets ein literarischer Wegbegleiter.
War der Tod einerseits unbegreiflich und schmerzlich, suchte Matthias Claudius mit ihm gleichwohl das Gespräch und nennt ihn „Freund Hain“. Schon im ersten Band seiner sämtlichen Werke schreibt Claudius über ihn: „Er soll als Schutzheiliger und Hausgott vorn an der Haustür des Buchs stehen“. Claudius kommuniziert mit ihm aus einer besonderen Nähe und Vertrautheit. Immer in der Gewissheit, dass der Tod ein unvermeidbarer, auch hilfreicher Begleiter ist auf dem Weg in die himmlische Herrlichkeit. Jürgen Wehrs geht in dieser Publikation den Spuren dieser Todesfreundschaft in vielen Hinsichten nach: anhand der Biographie von Matthias Claudius, anhand von seinen wunderbaren Texten, von Bildern und ikonographischen Bezügen, und von Dialogen mit verschiedensten Gesprächspartnern.
Wir fragen heute vielleicht kritisch: Kann man sich mit dem Tod überhaupt anfreunden? Zugleich erfahren wir, dass wir in einer Zeit, in der Selbstbestimmung und Autonomie größte Bedeutung haben, neue Perspektiven auf die Endlichkeit des Lebens brauchen. Vielleicht auch einen „Mut zur Endlichkeit“, wie es Fulbert Steffensky einmal geschrieben hat. Wenn uns der Dialog von Matthias Claudius mit „Freund Hain“ heute eher fremd erscheinen sollte, stellt sich doch auch uns die Frage, wie wir den Tod verstehen und wie wir uns auf den Tod vorbereiten. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben, auf dass wir klug werden,“ so heißt es im Psalm 90. Was kann das heißen, klug zu werden angesichts der Endlichkeit, die auch mein Leben betrifft? Antworten dazu werden sehr unterschiedlich ausfallen. Mir fallen dazu auch Menschen ein, die in unserer Zeit von überwältigenden „Nahtoderfahrungen“ eher leise erzählen, die ihren Blick auf den Tod und das Leben stark verändert haben.
An manchen Orten habe ich die oben genannte 6. Strophe des Liedes von „Der Mond ist aufgegangen“ zu schätzen gelernt: In der Begleitung Sterbender können diese Zeilen und all die anderen Liedstrophen aus dem Gesangbuch, die vom Sterben oder von der künftigen Herrlichkeit handeln, eine besonders tröstliche Kraft entwickeln. Für Menschen, die spüren, dass sie bald sterben werden und für die, die sie begleiten.
Ich wünsche diesem Buch viele interessierte Leserinnen und Leser.

Kommentare sind geschlossen.