Pest, Cholera und Corona in der Belletristik – Rezensionen
„Werner M. Ruschke, ehemaliger Ephorus des westfälischen Predigerseminars in Soest und früherer Vorstandsvorsitzender des Evang. Perthes-Werkes, hat in der Zeit der Corona-Pandemie 20 belletristisch Werke gelesen, in denen Seuchenerfahrungen verarbeitet werden. Die Bandbreite der vorgestellten Bücher reicht von Boccaccios Dekameron über Andrzej Szczvpiorski und Jose Saramago bis zu Thea Dorn. Darunter sind bekannte – z.B. Thomas Mann, Der Tod in Venedig, oder Albert Camus, Die Pest – und eher unbekannte Werke wie Mary Shelley, Der letzte Mensch, oder John Ironmanger, Der Wal und das Ende der Welt, die zu entdecken aber sehr lohnenswert ist.
Ruschkes Buch ermöglicht gleichsam einen Blick von außen: Welche Rolle spielen Gott, Religion und Kirche jenseits der Debatten von Fachtheologen in der Seuchenliteratur nicht-theologischer Schriftsteller? … Gerade durch diesen ,Blick von außen‘ kann das Buch helfen, die Erfahrungen dieser Zeit tiefer zu verstehen und besser einzuordnen. Es zeigt, dass Epidemien ein Härtetest für die Tragfähigkeit ethischer Überzeugungen und für die Relevanz oder Irrelevanz von Religion und Kirche in verunsicherten Gesellschaften sind.
Allen, die um ein vertieftes Verständnis der Corona-Zeit bemüht sind, und nicht zuletzt den Freunden guter Literatur ist das Buch sehr zu empfehlen.“
Prof. Dr. Hans-Martin Lübking, zuletzt Direktor des Pädagogischen Instituts der Evangelischen Kirche von Westfalen
„Die Corona-Pandemie fordert heraus. Vielleicht meinten wir, Seuchen und Pandemien seien etwas, das Menschen in der Vergangenheit bedroht hätte. ,Die Pest, die im Finstern schleicht‘ (Psalm 91,6), das kannten die Menschen der Bibel. Dabei bedrohen Pandemien und Epidemien Menschen seit jeher. Und auch wir sind davon nicht ausgeschlossen. Es gibt eine ,Seuchen-Literatur‘ (S. 9), wie Werner Ruschke feststellt, die vom Leben der Menschen an Grenzen erzählt. Diese Grenzerfahrungen haben sich in Literatur niedergeschlagen. Werner Ruschke fragt, inwiefern diese Literatur ,für unser eigenes Verstehen und Handeln in Pandemie-Zeiten‘ (S. 9) hilfreich und hoffnungsstärkend sein kann.
Im Durchgang durch die Literaturgeschichte wird entfaltet, wie Menschen mit Seuchen und extremen Lebenslagen umgegangen sind und wie sich das in der Literatur widerspiegelt. Anhand von zwanzig Beispielen von Giovanni Boccaccio aus dem Jahr 1351 bis hin zu Thea Dorn und Safiye Can aus dem Jahr 2021 wird die Literatur vorgestellt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Werken des 20. Jahrhunderts. Werner Ruschke fasst dabei die literarischen Stücke zusammen und stellt sie kurz vor. Immer wieder gibt er dabei Hinweise auf den theologischen, seelsorglichen, lebenspraktischen Umgang mit Seuchen, Epidemien, Krankheiten. Die ersten 110 Seiten des handlichen Büchleins entfalten diese literarischen Werke. Gerne liest man sich ein, zum Beispiel in Daniel Defoes ,Die Pest in London‘ von 1722, in Albert Camus‘ ,Die Pest‘ von 1947, in Andrzej Szczypiorskis ,Eine Messe für die Stadt Arras‘ von 1971 oder Gabriel García Márquez‘ ,Die Liebe in den Zeiten der Cholera‘ von 1985. Interessant ist etwa ein Hinweis in der Besprechung von Ljudmila Ulitzkajas Werk ,Eine Seuche in der Stadt‘ von 1978 auf das Handeln autoritärer Staaten in Seuchenlagen. Nach einem tatsächlich stattgefundenen Laborfehler bei der Entwicklung eines Pestimpfstoffs im Jahr 1939 in der Sowjetunion droht eine flächendeckende Pestausbreitung: ,Tatsächlich war es damals ausgerechnet der Geheimdienst, der seine einschlägige Erfahrung in der Verhaftung und ‚Liquidierung‘ von Menschen nutzte, um binnen weniger Tage eine strenge Quarantäne zu organisieren, und so eine Epidemie verhinderte‘ (S. 91). In Thea Dorns Roman ,Trost, Briefe an Max‘, dem ersten bedeutsamen deutschen Roman über Corona, weist Werner Ruschke auf den Widerstand des Christentums gegen den Tod hin, der sich in diesem Werk findet. Er zitiert: ,Falls jemand darüber nachdenken sollte, über die Möglichkeit von Trost nachzudenken, wäre mein einziger Trost, dass es Menschen gab und gibt, die vor dem Tod, vor der Gewalt, vor der Tyrannei, vor dem Unrecht nicht zu Kreuze gekrochen sind‘ (S. 103 f.).
Der ,Ertrag‘ (ab S. 111) dieser Beschäftigung mit Literatur zum Thema wird ausführlich dargelegt. Dabei geht es auch um die alte Frage der Theodizee. Gott ist unglaubwürdig, wenn er Epidemien nicht nur zulässt, sondern sie sogar verursacht. Eine ,Gut-Wetter-Sittlichkeit‘ (S. 111) kollabiert in unruhigen Zeiten schnell. Dass in der Pandemie globale Krisen wie der Klimaschutz besonders zu Tage träten, die Natur nun gleichsam zurückschlage und sich wehre, unterstelle, ein Virus handele wie eine Person, entscheide reflektiert und bewusst (vgl. S. 122). Die oft gestellten Fragen nach der Systemrelevanz der Kirche, nach der Wirkungsweise von Onlinegottesdiensten, nach den Präsenzgottesdiensten in den Gemeinden, nach der Bedeutung der Diakonie werden von Werner Ruschke gestellt und besprochen. Kirchengemeinden sollten sich fragen: ,Was von all unseren Aktivitäten ist unaufhebbar wichtig?‘ (S. 138). Dabei sei es wichtig zu erkennen, dass Epidemien uns nichts lehren wollten, sondern ein Kairos seien, dem sich auch das Christentum und die Kirchen nicht entziehen könnten. Es gelte, diese Chance zu verstehen und sie in kluges Handeln umzusetzen. Dass das Buch mit dem Wort ,Hoffnung‘ (S. 144) endet, ist so ein Hinweis auf ein Zeichen der Zeit.“
Dr. Albrecht Philipps
„Zwanzig Werke der Weltliteratur hat sich Werner Ruschke, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des Perthes-Werkes in Münster, vorgenommen, die alle von Epidemien ihrer Zeit erzählen. Sei es Daniel Defoe, Andrzej Szczypiorski oder Friedrich Dürrenmatt. Allesamt aus dem 18. bis 21. Jahrhundert. Der evangelische Theologe arbeitet heraus, wie in der Literatur auf diese Herausforderungen geantwortet wird. Dabei gilt sein Augenmerk den ethischen Impulsen der handelnden Hauptpersonen und den theologischen Versuchen, das Böse und das Leiden als sinnvoll darzulegen. Ein überaus kluges und anregendes Buch, in dessen ,Ertrag-Kapitel‘ er schreibt: ,Epidemien wollen uns nichts lehren. Aber sie geben Christenmenschen Anlass, im Gespräch mit der biblischen Tradition aus ihnen Lehren zu ziehen für ihr Leben als Einzelne wie als Gemeinde.’“
12/2022 zeitzeichen